Crippe-Allianzen

Intersektionalität und Inklusion

Behinderung [1] wird in unserem gesellschaftlichen Normensystem noch immer als nicht wünschenswert angesehen, anstatt sie als vielfältige Variante menschlicher Lebensrealität, losgelöst von negativen Bewertungen anzunehmen. Sie wird oft als Tragödie gefasst. Die Tragödie der Behinderung, die nicht sein darf und die es durch medizinische, physiotherapeutische u.a. Maßnahmen möglichst zu überwinden gilt. Diese Tragödie haftet dem Individuum als Makel an. Behinderung wird in unserer Gesellschaft als „natürliches“ Faktum angesehen, das Menschen in ihren Zuschreibungen fixiert und klare Erzählungen hervorbringt. Weil Nicht-Behinderung als Norm angenommen wird, definiert diese Norm auch, was als behindert gilt. Das hat viel mit Ableismus zu tun.

Ableismus bezeichnet jene Form von Diskriminierung, von der Personen mit Behinderung* betroffen sind. Der Begriff wird von „to be able“ (Deutsch: „Fähig-Sein“) abgeleitet. Dieser Begriff meint, dass unser menschlicher Körper, sowie unser Denken, Fühlen und Handeln auf eine vorgegebene Weise funktionieren müssen, und falls sie dies nicht tun, zumindest kontrollierbar sein müssen. Diese Vorstellungen vom Fähig-Sein tragen jene Gewalt in sich, die als Ableismus bezeichnet wird. Bei Ableismus, wie bei anderen Diskriminierungsformen, geht es demnach um das Erfüllen von bestimmten, definierten Werten und Wertmaßstäben. Das „Funktionieren“ wird einer physischen, psychischen oder mentalen Behinderung* gegenübergestellt und als „besser“ bewertet. Menschen, die diesen Vorgaben des Funktionierens entsprechen können und wollen, verfügen gesellschaftlich gesehen über mehr Macht, denn „nur ihre Leben und Körper werden als schön, erstrebenswert und sinnvoll angesehen, ihre Gedanken gelten als ‚rational‘ und ihre Erfahrungen als allgemeingültig.“ [2]

Abled-Sein ist also, genauso wie Weiß-Sein, Männlich– und Heterosexuell-Sein u.v.m. ein historisch und gesellschaftlich gewachsenes Konstrukt. Ein Konstrukt, das nicht unveränderbar ist. Das Konstrukt von Disability ist darum ein Status, der erlangt und zugeschrieben, aber genauso wieder verloren und abgesprochen werden kann. Ebenso ist und war es nicht immer gleich, sondern umkämpft, was als dis_abled gilt und galt. Auch gibt es unterschiedliche geographische, kulturelle und historische Anerkennungen und Ausprägungen von Dis_ability. Personen, die nicht-behindert* sind, sind demzufolge gleichermaßen abilitized, von Ability und Disability geprägt, wie weiße raced, von „Rasse“ geprägt und Männer* gendered, von Geschlecht geprägt sind u.v.m. Diese gesellschaftliche und kulturelle Prägung gilt meiner Ansicht nach in gleicher Weise auch für behinderte* Menschen. Die Normalität der Nicht-Behinderung wird sowohl von behinderten*, wie auch nicht-behinderten* Menschen erfüllt und mitgetragen. Ableismus ist deshalb grundlegend auch die Verantwortung von nicht-behinderten* Menschen.

Eine kulturelle Perspektive auf Behinderung* geht davon aus, dass es in unserer Gesellschaft einen Zwang zum Fähig-Sein im Sinne des „Funktionierens“ gibt. Diesen Zwang zur Nicht-Behinderung haben alle Menschen, ob behindert oder nicht, zu erfüllen. Bei der kulturwissenschaftlichen Herangehensweise geht es dementsprechend nicht um die Problematisierung von Behinderung, sondern das Zusammenspiel von Normalität und Abweichung und deren Verhältnis zu Begriffen wie Gesundheit, Funktionieren, Leistung oder auch Schönheit rückt in den Fokus. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen zu sagen „wir sind alle behindert*, haben Migrationserfahrung, haben Erfahrung mit sozialer Benachteiligung etc.“. Denn Erfahrungen von Behinderung, kultureller Herkunft, Geschlecht, sozialer Benachteiligung u.v.m. unterscheiden sich.

Auf Behinderung* bezogen ist es beispielsweise ein Faktum, dass jeder Mensch nur einen zeitweise fähigen Körper hat. Denn alle Menschen können im Laufe ihres Lebens und zu jeder Zeit immer wieder „behindert“, chronisch krank, etc. sein oder werden. Ebenso ist kein Mensch in jeder Situation bzw. ausschließlich beeinträchtigt. Die Beeinträchtigung besteht immer in Bezug auf eine gewisse Situation. Behinderung wird jedoch in unserer nach Norm strebenden Gesellschaft nur „tatsächlich behinderten“ Menschen zugeschrieben. Weil Behinderung* kein privates Phänomen ist, sondern uns alle angeht, ist es wichtig, sich der eigenen Privilegien bewusst zu sein/zu werden und aus dieser Perspektive heraus Anderen den Alltag zu erleichtern; mit Anderen in Kommunikation zu treten, in wertschätzender und respektvoller Weise. Und als weiteren Schritt systemverändernde Strategien umzusetzen.

Räumliche Barrierefreiheit ist das kleinste Brösel; der erste und äußerst grundlegende Schritt zur Überwindung von Barrieren in den Köpfen der Menschen. Erst wenn räumliche Barrierefreiheit gegeben ist – und zwar so wie es unterschiedlichste Menschen mit Dis_ability auch tatsächlich brauchen – kann es ans Eingemachte gehen. Dann erst können wir Begegnungen starten. Erst auf dieser Basis können wir über ein Miteinander in Wertschätzung und Respekt und über Gemeinschaft u.v.m. nachdenken. Damit diese Begegnung auf gleicher Augenhöhe passiert, braucht es aber noch viel mehr. Reden wir alle miteinander, darüber, was wir alle brauchen! Denn ignorante Umgangsweisen in unserer Gesellschaft sind nicht nur auf Behinderung* beschränkt, sondern beziehen sich genauso auf kulturelle Herkünfte, Religionen, Hautfarben, Alter, Sprachen, Geschlecht etc.

Inklusive Kunst und Kultur ist einerseits das Exklusivste überhaupt, da z.B. Tanzschaffende für ihre Bühnenstücke Tänzer_innen auswählen und jene mit schweren Behinderungen* weniger leicht ausgewählt werden. Andererseits ist Kunst und Kultur eine interessante Möglichkeit Leute zusammen zu bringen. Das gemeinsame Arbeiten an einer Thematik lässt über Kategorien von Behinderung*, Herkunft, Geschlecht u.v.m. hinausdenken. Das Gemeinsame rückt in den Vordergrund, schweißt zusammen und lässt eigene Begrenzungen verschwinden. Inklusive Kunst und Kultur kann aber auch darüber hinwegtäuschen, dass außerhalb der Kunst (ästhetische) Normen weiterhin bestehen. Denn inklusive Kunst und Kultur ist quasi eine Insel auf der alle in gewisser Weise und zum Teil „gleich“ sein können, während das jenseits der Insel nicht der Fall ist. Dennoch strahlt diese Insel auch positiv auf die Gesellschaft aus. [4]

Es ist wichtig anzuerkennen, dass die derzeit existierende Kunst- und Kulturwelt, die wir bislang als normal verstehen, unvollständig ist, weil Menschen von ihr ausgeschlossen sind. Es braucht eine Vervollständigung. Es braucht gelebte Intersektionalität und das Zusammendenken verschiedener miteinander verwobener Diskriminierungen. Es braucht Allianzbildung und Bündnisse unter Verschiedenen; unter politischen Aktivist_innen, unter interessierten Frauen* und Männern*, behinderten* Menschen, Queers, Schwarzen Menschen / People of Color etc. Noch viel mehr braucht es ein solidarisches miteinander Tätigsein in gegenseitiger Fürsorge und Unterstützung. Es braucht Begegnung, Wertschätzung und Respekt zwischen allen Menschen. Wir brauchen unsere eigenen, individuellen – aber auch gemeinsamen – Zukünfte.

Ist das unrealistisch? Nichts passiert in der realen Welt, wenn es nicht zuerst in unseren Köpfen existiert! Unsere Vorstellungskraft zu erweitern, über Grenzvorstellungen hinauszudenken, ist die Voraussetzung dafür, unsere gegenwärtige Situation zu verändern. Dies bedeutet Offenheit dafür, eine Veränderung dort zu finden, wo wir nicht annehmen sie zu finden. Wir müssen bereit sein, neue Zukunftsentwürfe zu entdecken. Um eine Inklusion ins ganze Leben zu erreichen, braucht es Begegnungsorte für alle Menschen um Gleichheit und Respekt zwischen Menschen – mit allen Geschlechtern und Sexualitäten, mit allen Körpern und Abilities („Fähigkeiten“), jeden Alters, unabhängig von ihrer Herkunft und Religion etc. zu fördern. Dadurch können Vorurteile, vorgefasste Meinungen und Barrieren in der Begegnung abgebaut werden. Dementsprechende Rahmenangebote einer authentischen Begegnung führen, so denke ich, zu einer Gesellschaft, die Vielfalt, Verschiedenheit und Individualität gewohnt ist und zu schätzen weiß. Für eine bessere Zugänglichkeit für alle müssen wir unsere Zukünfte miteinander gestalten und umgestalten. Wir müssen unser Leben und unsere Zukunft gemeinsam in die Hand nehmen! Dies bedeutet eine Bereitschaft und ein Bewusstsein dafür, dass eine Veränderung jetzt notwendig ist und deshalb jetzt angegangen werden muss!

Lasst uns Kunst und Kultur zu einem Ort für ein Miteinander in gegenseitiger Wertschätzung, Fürsorge und Respekt verschiedener Personengruppen machen. Lasst uns kontinuierlich Impulse dafür setzen, dass die Zukunft für alle zugänglich und barrierefrei ist! 


Elisabeth Magdlener, Verein CCC** – Change Cultural Concepts, ist Kulturwissenschaftlerin und lehrt im Bereich Queer DisAbility (Studies) und Körperdiskurse. Sie ist im Vorstand von Ninlil (Empowerment und Beratung für Frauen* mit Behinderung*) sowie Tänzerin und Mitglied der weltweiten Community-Tanzbewegung DanceAbility und A.D.A.M. (Austrian DanceArt Movement).


*Die Schreibweise des Sternchens wird im Sinne einer Widerständigkeitsynonym mit jener des Unterstrichs verwendet, um einseitige gesellschaftliche Zuschreibungen und Bewertungen hinsichtlich Behinderung,

Geschlecht etc. sichtbar und flexibler zu machen und damit aufzuweichen.

[1] Vorweg möchte ich festhalten, dass ich den Begriff „Behinderung“ stellenweise stark auf körperliche Behinderung* beziehen werde. Der Inhalt des Beitrags betrifft jedoch gleichermaßen Ability in Bezug auf psychische und mentale Zusammenhänge sowie chronische Erkrankung* u.v.m.

[2] Christiane Hutson: Mehrdimensional verletzbar. Eine Schwarze ­Perspektive auf Verwobenheiten zwischen Ableism und Sexismus, in: Jutta Jacob et al. (Hrsg.): Gendering disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010, S. 61f.

[3] Vera 2016 im Interview mit Magdlener, siehe auch Cornelia; Elisabeth; Michael & Vera 2016 in Elisabeth Magdlener: Cripping Dance? Potenziale und Ambivalenzen im inklusiven Tanz, Bad Vöslau, 2021, S. 49; 61.

[4] Michael 2016 im Interview mit Magdlener.