Bildpunkt: Andrea, du arbeitest als Künstlerin und Autorin an den Schnitt-stellen von Kunst, Politik und Experiment. Das Archiv spielt dabei eine große Rolle. -Welche Bedeutung hat der Kampf gegen das Vergessen allgemein für soziale Bewegungen und speziell in deinen Arbeiten?
Ancira García: In meiner Praxis untersuche ich die Rolle des Archivs im Sinne dessen, was Ariella Azoulay als potenzielle Geschichte bezeichnet: die Möglichkeit, neue Bedingungen sowohl für das Auftreten von Ereignissen als auch für unser Auftreten als deren Erzähler*innen zu schaffen. Das ermöglicht uns, in die Ordnung der Dinge einzugreifen, die die strukturelle Gewalt als natürliche Ordnung geschaffen hat. Diese Herangehensweise erlaubt es uns, das Archiv von seinen Grundlagen her neu zu denken, aus der Perspektive des Fiebers und der Ansteckung sowie der Handlungen derer, die es infiziert, seine Community. Mir scheint, dass diese Perspektive vor allem jene Archive beeinflusst, die Geschichten Platz bieten, welche „fragil“ sind oder die durch dominante Narrative unsichtbar gemacht werden, wie die Archive von sozialen, queeren und transethnischen Bewegungen, die oft in unkonventionellen Formaten oder in verstreuten Fragmenten existieren und darauf warten, gesammelt und geteilt zu werden.
Bildpunkt: Herbert, du arbeitest als Kurator im Volkskundemuseum. Dabei hast du ständig mit der Frage zu tun, was gesammelt, bewahrt und vor dem Vergessen geschützt werden soll – und was nicht. Nach welchen Kriterien arbeitest du?
Justnik: In meiner forschend-kuratorischen Tätigkeit beziehe ich eine (macht-)kritsche und zum Teil postkolonial fokussierte Position gegenüber der Fotosammlung des Museums. Mich interessieren Fragen der Wirkmächtigkeit von Bildern – im Besonderen in Bezug auf Bildzirkulation und die darüber kontrollierten Subjekte. Die Auswahl anderer kuratorischer Projekte ist an der Gegenwart orientiert – können sie etwas zu aktuell geführten Diskussionen und Debatten beitragen? Generell interessieren mich immer wieder experimentelle Projekte mit partizipativen oder performativen Ansätzen, die Erinnern mehr aufführen, als nur ins Depot zu begleiten.
Bildpunkt: Vergessen wird gemacht. Das -bedeutet, dass bestimmte Ereignisse und -Personen, Werke und Praktiken aus dem -kollektiven Gedächtnis nicht nur verschwinden, sondern oft aktiv herausgedrängt werden. Wann seid ihr in eurer Arbeit mit solchen Prozessen konfrontiert?
Justnik: In der Auseinandersetzung mit der Fotosammlung des Museums und der Volkskunde sind das – vor allem in der (habsburgischen) Frühzeit – strukturelle Problematiken. Eine Frage, über die sich diese Lücken deutlich machen lassen, ist die der Diskurshoheiten. Der volkskundliche Diskurs ist geprägt von als männlich und weiß identifizierten Subjekten mit einer urban-elitären Orientierung, hauptsächlich hegemoniale Positionen der wechselnden herrschenden Ideologien – abhängig vom jeweiligen Territorium. Andere Stimmen, vor allem diejenigen der von der Volkskunde beforschten Personen, sind kaum hörbar, müssen zwischen den Zeilen gefunden werden.
Ancira García: Da das Archiv eine privilegierte Beziehung zu den Kategorien Wahrheit und Geschichte hat, wird es häufig zu einem Instrument, das das Vergessen vorschreibt. Allerdings wird das, was sich im Archiv befindet, auch zum Material für die Untersuchung des Abwesenden. Die Infragestellung des Status des Archivs als „direkte Aufzeichnung“ hat es mir ermöglicht, mich kritisch mit der Ausgrenzung auseinanderzusetzen, die jeder Sammlung zu Grunde liegt, und aus den Abwesenheiten oder von bloßen Spuren zu lernen. Die Jagd nach dem, was nicht im Archiv ist, löst Fragen aus, die über das hinausgehen, was das Archiv erzählen kann oder will.
Bildpunkt: In den letzten Jahrzehnten ist extrem viel geschehen in Sachen Erinnerungsarbeit: Wenn auch die Subaltern Studies selbst schon fast wieder vergessen sind, die Blicke von den geschlechterpolitischen, ethnisierten, prekarisierten Rändern der Geschichte aus sind sehr präsent. Das hat selbst das Erstarken der ultrarechten Kräfte nicht verhindern können. Welche Kämpfe gegen das Vergessen haben sich für euch als besonders bedeutsam oder faszinierend erwiesen?
Ancira García: Sie alle sind aufgrund der Einzigartigkeit ihrer Daseinsberechtigung und ihres Kampfrepertoires relevant. Ich kann jedoch nicht umhin, eine zu erwähnen, die mich auf Grund meiner Herkunft beschäftigt, und das ist der Krieg gegen das Vergessen, den die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN) dem mexikanischen Staat vor 30 Jahren erklärt hat. Dadurch hält sie einen Spiegel vor, in dem sich die Gründungsmythen des mexikanischen Staates zeigen, so dass das Narrativ einer einheitlichen mestizischen Nation in Frage gestellt wird: die ideologischen Aspekte der mexikanischen Identität, die mit Macht durchgesetzt wurden, der Nationalismus, der den indigenen Bevölkerungsgruppen kulturelle und symbolische Elemente entzieht, während er alles daran setzt, sie auszulöschen, sowie schließlich die Struktur des Staates selbst. Dieser Kampf wird bis heute durch ein System von sich selbst erhaltenden autonomen Gemeinden aufrechterhalten, deren bloße Existenz jeden Tag die Säulen der westlichen kapitalistischen Moderne in Frage stellt.
Justnik: Ich durfte im Volkskundemuseum mehr oder weniger aktiv an vielen Projekten mitarbeiten oder sie begleiten, genauso wie ich eigene Projekte entwickeln konnte. Dabei spielten immer mehr oder weniger politisch-kritische Intentionen eine Rolle. Schwerpunkte lagen auf Prekarisierung und Geschichte von unten, historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Gegenwärtigkeiten, Projekte zur Migration (insbesondere der Utopie einer Postmigrantischen Gesellschaft), Fragen der Partizipation in musealen Prozessen der Wissensgenerierung und diskursive Offenlegungen und Öffnungen.
Bildpunkt: Bildende Kunst fungiert immer wieder auch als erinnerungspolitisches Medium. Wo liegen die Vorteile von Kunstpraktiken in dieser Hinsicht, etwa im Vergleich zu historischen Studien oder politischen Forderungen? Wo stoßen Kunstpraktiken an ihre Grenzen?
Justnik: Die museale Ordnung mit ihrer Fokussierung auf Räume, Objekte und inzwischen immer mehr Aufführungspraktiken, bietet ganz andere Möglichkeiten der Vermittlung, Involvierung und Teilhabe aber auch der Ausdifferenzierung des Verständnisses von komplexen Phänomenen. Genauso können sie ein Raum sein für Reflexion und eine nicht sofort auf verschriftlichte oder direkt umsetzbare Formen zielende Wissensproduktion.
Ancira García: Künstlerische Praktiken haben die Fähigkeit, als Bindeglied zwischen unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Gewaltgeschichten zu fungieren. So hat beispielsweise die Ästhetik der postmemory/ posmemoria Sprachen entwickelt, um Erfahrungen von Trauma, Verlust oder Trauer, aber auch von Widerstand, Ablehnung und Opposition zu benennen und/oder sichtbar zu machen. Diese künstlerischen Praktiken haben eine Ästhetik des Erinnerns hervorgebracht, die keine Hypothesen darüber aufstellt, was „wirklich geschehen ist“, sondern Brücken baut, Einfühlung und Solidarität vorschlägt, sich linearen Verläufen entzieht und alternative mögliche Geschichten willkommen heißt und uns auffordert, uns vorzustellen, was hätte geschehen können. Die Herausforderung besteht darin, so die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch, zu verhindern, dass diese Bereitschaft zur Verbindung von Gewalterfahrungen und den daraus resultierenden Schmerzen wichtige historische Besonderheiten und Eigenheiten beseitigt.
Bildpunkt: Welche Geschichte/n würdet ihr gern vergessen sehen?
Ancira García: Geschichten, die nicht zulassen, dass mehrere und widersprüchliche Erinnerungen ineinanderfließen.
Justnik: Das Museum tut sich schwer, Dinge wieder herzugeben, bzw. sie zu vernichten, aber ich würde vieles gerne im Speicher belassen und mich stattdessen mehr den Lücken zuwenden.
Das „Gespräch“ wurde im März 2024 von Jens Kastner und Sophie Schasiepen per E-Mail geführt. Die Antworten von Andrea Ancira García wurden von Jens Kastner aus dem Spanischen übersetzt
Andrea Ancira García ist Redakteurin und Kuratorin. Sie arbeitet derzeit beim Verlag tumbalacasa ediciones, dessen Mitbegründerin sie ist, und sie ist Doktorandin an der Akademie der bildenden Künste in Wien.
Herbert Justnik ist Kulturwissenschaftler und Kurator im Volkskundemuseum Wien.