Organisieren oder Mobilisieren?

Politisches, soziales und kulturelles Engagement ist immer Organisationsarbeit. Je nach Zielstellung sind es Menschen oder Prozesse, die dabei zu organisieren sind. Es gibt durchaus Organisierungsarbeit, die eine Einzelperson leisten kann – aber selbst dann ist Organisierung ein sozialer Prozess, der die Interaktion mit anderen Menschen voraussetzt – und die Interaktion ist immer auch Teil des Ziels.

Neben dem grundsätzlich sozialen Charakter ist damit als wesentliches Merkmal von Organisierungsarbeit ihre Zielorientierung benannt. Und das heißt, die Form der Organisation oder Organisierung wird um so komplexer, je komplexer auch das Ziel benannt ist. Das gilt vor allem für sozialpolitische Organisierungsarbeit. Ein weiterer Charakterzug ist die Prozesshaftigkeit (Zeitlichkeit) – Organisationen und Organisierungspläne verändern sich stetig durch ihre Entwicklung, da sich auch die Ziele und die einbezogenen Personen und Sachverhalte ändern können. Und außerdem ist die Räumlichkeit von Organisierungsprozessen zu bedenken, Organisierung braucht einen Raum, tendenziell einen öffentlichen, etwa um sich zu versammeln, um Aktionen durchzuführen, Menschen anzusprechen, Kunst zu präsentieren u.ä.

Wer etwa ein Kunstwerk gestaltet, kann relativ autonom organisieren. Er*sie braucht natürlich Raum, wahrscheinlich auch ein Minimum an sozialen Kontakten, um Material zu organisieren. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass der*die Künstler*in mit selbst gesammelten Materialien wie etwa Sperrmüll arbeitet, so ist ein Minimum an zwischenmenschlichen Kontakten doch nötig, um die körperliche Unversehrtheit der Person zu gewährleisten. Das weist auf die Relevanz des Reproduktionsbereichs hin: Der Körper ist sozial abhängig, Autonomie ist eine (tendenziell gefährliche) Illusion. Auch der Alltag will organisiert sein. In der Welt des Politischen kennt man das als „Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau“. So patriarchal dieser Spruch auch sein mag, so beschreibt er doch zutreffend die patriarchale Wirklichkeit: Als Peter von Oertzen in den 1960er Jahren Daten engagierter deutscher Sozialdemokraten erhob, wurde deutlich, dass das politische Engagement deutlich auf Kosten der Ehefrauen ging, deren Unterstützung unbedingt notwendig war – und auch heute noch sein wird. Damit sehen wir schon: Die Organisierung einer politischen Organisation oder gar Institution bringt deutlich mehr Aufwand mit sich als die Gestaltung eines Kunstwerks (wobei dies natürlich von der Art des Kunstwerks abhängt). Anders sieht dies schon in dem Moment aus, in dem das Kunstwerk präsentiert, zugänglich gemacht, verkauft wird – wenn es also in den öffentlichen Raum kommt, was es gewissermaßen erst zum wahrgenommenen Kunstwerk macht.

All dies weist darauf hin, dass Organisierung kein Selbstzweck ist. Etymologisch stammt der Begriff vom griechichen organon, dem Werkzeug – wer organisiert, bewerkstelligt, ordnet planmäßig und gestaltet. Damit verbietet sich eigentlich ein gerade im politischen Engagement verbreiteter Organisationsfetischismus: Die Organisation als Methode ist dem Ziel entsprechend immer wieder in Frage zu stellen. Welche Organisierungsform ich wähle, hängt von meinem Ziel ab: Für eine Informationsveranstaltung oder eine Veranstaltungsreihe, auch für eine künstlerische Intervention, reicht vielleicht ein Freundeskreis, ein loses Netzwerk oder eine autonome Gruppe, für die Organisierung einer Klasse dagegen brauche ich eine Gewerkschaft oder eine Räteorganisation, manche meinen, eine Partei. Und für die Organisation der gesamten Gesellschaft, so meinen die meisten, sei als Organisationsform ein Staat von Nöten. Welche Art von Organisierung wiederum notwendig ist, um einen solchen zu stürzen, darüber sind verschiedenste Meinungen im Widerstreit: Während etwa Anarchosyndikalist*innen auch hier die Gewerkschaft wählen würden, weil sie in einem allgemeinen Generalstreik das geeignete Mittel zum Umsturz sehen, würde ein orthodoxer Marxismus- Leninismus auch für diesen Zweck die Partei als Organisationsform wählen, wer Gewalt nicht prinzipiell ablehnt, hält vielleicht eine Miliz für das geeignete Mittel.

Die Organisationsform hängt also nicht nur vom Ziel ab, sondern auch von der Interpretation, wie dieses Ziel erreichbar ist, welche Methode also für erfolgversprechend gehalten wird. Das hat weitreichende Folgen für die Form der Organisierung: Eine Organisation bildet immer eine Form von (formeller oder informeller) Hierarchie aus und beeinflusst das Agieren der Mitglieder durch die Vereinbarung(en), die Basis der Organisierung ist oder sind – sei es auch nur das gemeinsame Ziel. Damit ist auch ein Problem benannt, dass sich grundsätzlich stellt, wenn Organisationsarbeit als politische Arbeit verstanden wird: die berühmte „Zweck-Mittel-Relation“. In einer entsprechenden Diskussion hat Herbert Marcuse den Satz geprägt: „Der Zweck ist klar: Der Übergang zum Sozialismus.“ Solange der Zweck allerdings derart abstrakt und allgemein formulier wird, lässt sich das Mittel nicht bestimmen: Die Organisierung wird planlos. Exakt an dieser Zielund Planlosigkeit leiden heute viele engagierte Organisierungsversuche.

Organisation ist damit auch immer mit Arbeit verbunden. Und das ist vielleicht der Grund, warum immer wieder Gruppen von Menschen, etwa prekär Beschäftigte oder oft auch Migrant*innen, als „unorganisierbar“ gelten. Dahinter steckt ein Vorurteil von Planlosigkeit, Bequemlichkeit und sozialer Inkompetenz. Tatsächlich sind es zwei andere Gründe, die eine gewisse Schwerfälligkeit in der Organisierbarkeit begründen: Erstens handelt es sich um Menschen, die für die Unversehrtheit ihres Körpers und die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse schon sehr viel organisieren müssen und zweitens stellen sich diese Menschen nicht ganz unberechtigt die Frage, ob Aufwand und Ertrag – Mittel und Zweck also – in einem angemessenen Verhältnis stehen.

Dass Community Organizing nach Saul Alinsky und das (ältere!) gewerkschaftliche Organizing setzen hier an, indem im Gesprächsprozess die Ziele gesucht werden, die den Aufwand wert sind. Die Zielermittlung wird zentraler Bestandteil des Organisierungsprozesses. Die Methode lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen. Der Vorteil liegt auch darin, dass Organisierung mit dieser Methode ein demokratischer Prozess wird, es wird nicht „von oben“, sondern miteinander organisiert. Das ist nicht nur relevant für die Demokratie als humanistischem Wert an sich, sondern auch Mittel der Selbstaktivierung: In einem solchen Prozess werden die Organisierten selbst für ihre Ziele aktiv, anstatt zu delegier

Der Betriebsaktivist Berni Kelb konfrontierte die deutschsprachige Linke in den 1970er Jahren mit den Alternativen „Organisieren oder organisiert werden“. Organizing scheint auf den ersten Blick in dieser Hinsicht ein Kompromiss zu sein – hier gibt es Organisierende, die aber die Menschen nicht als einfache Mitglieder einer Organisation organisieren, sondern zur Selbstaktivität mobilisieren, sie organisieren sich also selber. Der 2011 verstorbene Berni Kelb wäre mit dieser Kompromissformel sicherlich nicht einverstanden gewesen, denn für ihn galt: Traue keinem, der dafür bezahlt wird. „Organizer“ ist heute ein Beruf in Gewerkschaften und NGOs, während basisdemokratische Organisationen manchmal jedes aktive Mitglied als Organizer begreifen.

Wie also das Dilemma zwischen Planung – die immer, wenn auch vielleicht fluktuierende, Hierarchien entstehen und vergehen lässt – und einer durchaus gewünschten basisdemokratischen Spontaneität (im Sinne Rosa Luxemburgs) überwinden? Anders gesagt: Wie lassen sich kreatives Chaos und planvolle Ordnung organisatorisch verbinden?

Statt vom Organisieren ließe sich vielleicht, auch in kritischer Haltung gegenüber den Methoden des Organizings, vom Mobilisieren sprechen. Denn es gibt einen wesentlichen Aspekt, der das heutige Organizing zu einem fragwürdigen Unterfangen macht: In der Theorie ist Organizing ein ergebnisoffener Prozess. Praktisch aber hat das Organizing immer schon bestimmte Ziele der Organizer im Hinterkopf, bevor der Organisierungsprozess überhaupt beginnt. Mobilisieren dagegen ist als wirklich offener Prozess vorstellbar. Das gewerkschaftliche Organizing legt fest: Aktion vor Funktion. Das muss aber nicht nur im Prozess gelten, sondern auch in der Ergebnisoffenheit. D.h., in einem Mobilisierungsprozess entscheiden die Menschen selbst, ob sie als Gewerkschaft, in einer Partei oder als temporäre autonome Gruppe tätig werden wollen. Eine solche organisatorische Offenheit ist auch deswegen wichtig und strategisch erfolgversprechend, weil sich das kapitalistische System gewandelt hat: Im heutigen Kapitalismus ist Arbeit auf das engste mit Mobilität verbunden – das gilt nicht nur für internationale Migration, sondern ebenso für die zahlreichen Menschen, die andauernd umziehen oder von einem beliebigen Ort aus in der virtuellen Welt arbeiten. Menschen lassen sich durchaus mobilisieren, in Zeiten eines sehr fluktuierenden Kapitalismus aber oft nur kurzzeitig und räumlich fluktuierend. Mobilisierung oder ergebnisoffene Organisierung muss daher nomadisch, umherschweifend und immer auch ein wenig prekär sein: im Sinne Judith Butlers sich bewusst, ohne weitere Organisierungsarbeit (oder Beziehungsarbeit) stets gefährdet zu sein. Denn das ist schließlich der Sinn jeder Organisierung: Kollektivität herzustellen, um die Gefährdung (des Körpers, der Gesellschaft, des Lebens und der Würde) in der Vereinzelung zu überwinden.


Torsten Bewernitz ist Politikwissenschaftler und Redakteur von express. Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Er lebt in Mannheim.